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Ein Bösewicht, der keiner ist

kost

WIL Niklaus Kost singt in der Wiler „La Traviata“ den Vater Alfredos. Diese Rolle lebt für den Bariton vom Kontrast zwischen damaligen Moralvorstellungen und heutigem Verantwortungsbewusstsein.

Niklaus Kost ist nicht zu übersehen. Wenn er mit seinen 2,03 Metern durch die Kellergänge von der Tonhalle hinüber ins Jägerstübli unter dem Tonhallenschulhaus geht, muss er mehr als den Kopf einziehen. Angenehm ist es wohl nicht, immer wieder auf diese Grösse angesprochen zu werden. In Inszenierungen hat er schon den verschiedensten Umgang damit erlebt: In Holland wurde er als Giorgio Germont in einen Rollstuhl gesetzt. Einerseits, um ihn, den heute erst 33-Jährigen älter erscheinen zu lassen, andererseits aber, um seine Grösse zu kaschieren.

Gesellschaftliche Vorgaben
Regina Heer, die Regisseurin der Wiler „La Traviata“ ging  anders damit um, sie setzte diese Grösse bewusst ein, beispielsweise im Kontrast zu den beiden Violetta-Darstellerinnen im ersten Bild des zweiten Aktes: Kosts obere Position auf dem schrägen Bühnenelement unterstrich seine grosse Macht über Violetta Valéry, der Geliebten seines Sohnes Alfredo. Dieser Beziehung fehlt der kirchliche Segen, wodurch Alfredos Schwester eine standesgemässe Verbindung verwehrt bleibt. Germont ist eingebunden in den gesellschaftlichen und religiösen Vorgaben seiner Zeit, er handelt – wechselt man in die Perspektive der damaligen Zeit – völlig verständlich, er kann gar nicht anders handeln.

Verantwortung abgeben
„Heute nehmen wir den Vater Germont als Bösewicht wahr“, erläutert Kost seine Rolle. Aber in Alexandre Dumas‘ Vorlage ist nichts davon zu finden. „Im Gegenteil, Violetta sagt einmal: „Er hat mir nichts gesagt, was ich nicht selbst schon 100 Mal überlegt habe“. Niklaus Kost war selbst überrascht: „Ich hatte den klassischen Verdi-Bösewicht wie Jago oder Macbeth erwartet“. Im Vergleich zu diesen beiden Figuren bewegt sich Germont jedoch absolut im Rahmen der Legalität.
Regina Heer hatte den religiösen Kontext herausstreichen wollen. Und zeigt damit einen Menschen, der sein eigenes Handeln mit „Gottes Willen“ und gesellschaftlichen Zwängen rechtfertigt. „Heutzutage erwartet man vom Einzelnen, dass er sich gegen vorherrschende Meinungen widersetzt“, sinniert Kost über seine überaus spannende Rolle. Damals gab man die Verantwortung ab an Andere, an Gott und die Gesellschaft. Die zeitgemässe Wiler Inszenierung wirft die Frage auf, wo heute noch Menschen ihre Selberverantwortung abgeben?
„Im letzten Akt übernimmt Germont jedoch ein wenig Verantwortung“, so Kost. Germont zeigt sich sichtbar getroffen, obwohl er sich rasch wieder ent-„schuldigt“: „Ich war gezwungen, das zu tun“.

Germont bleibt in Wil
Diese strenge, ambivalente Figur des Giorgio Germont nimmt Niklaus Kost nach den Vorstellungen nicht mit nach Hause. Gemeinsam mit seinen Solisten-Kollegen fährt er im Zug zurück nach Zürich, geniesst ein Feierabendbier im Zugrestaurant und entspannende Gespräche. Auch zuhause zeigt er bei Weitem nicht den strengen Familienvater. „Kann höchstens sein, dass sich während der Probenarbeit etwas in meinem Verhalten niedergeschlagen halt, als ich mir überlegte, wie ich diese Rolle entwickeln will“, erinnert sich Kost.
Als Familienvater, der das Glück zweier Liebenden zerstört, mag Germont heute zwar als Bösewicht wirken. Doch gemeint hat er es nur gut. Aus seiner Sicht.

 

Unsere Zeit ist begrenzt

hofstetter

WIL Andrea Hofstetter und Israel Alarcon Maizer stehen in „La Traviata“ als Zweitbesetzung auf der Tonhallen-Bühne. Mit dem Produktionsteam auf und hinter der Bühne fühlen sich beide rundum wohl.

Nicole Bosshard und Andrea Hofstetter haben nebst Ihrer Hauptrolle in „La Traviata“ eine weitere Gemeinsamkeit: Sie studieren beide bei Ivan Konsulov Gesang in Zürich. Dieser war 2006 als Nabucco in Wil aufgetreten. Und für beide Sopranistinnen ist es das erste Mal, dass sie in dieser hochemotionalen Partie auf der Bühne stehen. Auch Israel Alarcon Maizer gab in Wil sein Debut als Alfredo. „Alfredo ist eine grosse, schöne Partie, die gut vorbereitet sein muss“, meint Maizer. Ob Erst- oder Zweitbesetzung: Die Anforderungen sind für den Bolivianer, der mittlerweile in Basel Sologesang studiert, die gleichen.

Keine Kopie
Die Arbeit mit Laienbühnen ist für Andrea Hofstetter nicht neu: Diesen Herbst wird sie bereits zum sechsten Mal in Möriken-Wildegg mitwirken. Ähnlich ist die Situation am Stadttheater Sursee, wo sie ebenfalls bereits in sechs Produktionen mitwirkte. Neben ihrer Bühnenarbeit ist sie als Lehrerin für Sologesang tätig.
in Wil fühlen sich Andrea Hofstetter und Israel Alarcon Maizer  ausgesprochen wohl: „Das Team bringt uns Auswärtigen sehr viel Wohlwollen entgegen“, erläutert die Sopranistin ihr Wohlbefinden. Darunter der Chor und die beiden Dirigenten, die einem eine eigene Gestaltung der Partie ermöglichen. Dies wurde durch die Regisseurin Regina Heer explizit gewünscht und erarbeitet: So durfte Hofstetter mit ihrem Bühnenpartner Israel Alarcon Maizer die Figuren individuell entwickeln. „Wir mussten unsere Rollen nicht einfach von der Erstbesetzung kopieren, mussten keine exakten Regieanweisungen ausführen“, erinnert sich Hofstätter an die Probenarbeit. „Dafür bin ich sehr dankbar – es hat die Probenarbeit für uns viel spannender gemacht“. Ein Grund mehr, sich auf jede der Aufführungen zu freuen. „Nicht zuletzt auch wegen der feinen Suppen und Kuchen im Jägerstübli“, schmunzelt die Sopranistin. „Die Leute sind alle sehr nett und offen, ich fühle mich gut in Wil“, schwärmt Maizer.

Herausforderung
Als Zweitbesetzung engagiert zu sein bedeutet immer eine eigene Herausforderung. Man hat weniger Proben und Auftritte, möchte aber natürlich auch das Optimum geben. „Das erfordert eigene Disziplin, die Abläufe selber einzuüben, präsent zu behalten und die stimmliche Sicherheit beizubehalten.“, erläutert Hofstetter diese Herausforderung. Eine weitere Herausforderung ergab sich erst kürzlich durch die Grippewelle: Alfredo-Darsteller Roberto Ortiz war krank geworden. Da die beiden Hauptrollenpaare ihr Zusammenspiel  so individuell entwickeln konnten, hiess dies für Hofstetter und Maizer, die Erstbesetzung an einem Abend abzulösen. „Ich war gerade an einem Geburtstagsfest, als der Anruf kam“, erinnert sich die Sopranistin. „Aber dann schaltet sich ein Autopilot ein: Man packt zusammen, singt sich ein und dann ab in die Maske“.

Stück er-leben
Eine so grosse Figur wie die Violetta Valéry geht nicht spurlos an einer Darstellerin vorüber. Die Beanspruchung in der Probenarbeit und den Vorführungen von Stimme, Körper und Emotionen sind erheblich. „Es ist aber eher so, dass ein Teil der eigenen Persönlichkeit in die Figur fliesst, nicht umgekehrt“, meint Andrea Hofstetter. „Das sei auch das Wunderbare am Musiktheater: Man könne durch die Musik und das Darstellen das Stück „er-leben“. Da bleibe schon etwas hängen – zum Beispiel das Bewusstsein dafür, dass unsere Zeit begrenzt ist.

Haare machen Leute

schweizer

WIL Der Wiler Coiffeur Marcel Schweizer steht im „La Traviata“-Chor auf der Bühne. Doch er ist auch für die Frisuren der Mitwirkenden zuständig – und das vor jeder Vorstellung.

Es ist ein Doppeljob, den Marcel Schweizer zu erledigen hat. Einerseits muss er mit seinem Team (Prisca Virdori und Marco La Gioia) die Darsteller des Musiktheaterwil frisieren. Andererseits muss er sich aber auch selbst für seinen Auftritt vorbereiten: Als Mann der Pariser Gesellschaft, der den Genüssen des Partylebens frönt. So leichtfüssig und elegant sich die Musik Verdis auch anhört: Diese Leichtigkeit ist nur mit absoluter Präzision zu erreichen und Dirigent Kurt Koller fordert von seinen Sängern genau dies: Absolute Präzision.
Die Inszenierung von Regina Heer verlangte allerdings etwas Neues: Sie sah jeden Choristen, jede Choristin als Individuum und setzte diese genauso ein. „Es gibt keine dieser verpönten Chor Lines“, schwärmt Schweizer. „Wir konnten unsere eigene Figur entwickeln, auch akzeptierte die Regisseurin nicht, dass immer die gleichen Choristen in der vordersten Reihe agieren.“
Stress vor dem Auftritt kann Marcel Schweizer nicht brauchen, aber dies passiert dem routinierten Theatermann schon lange nicht mehr.

Perfektes Timing
Zweieinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn trifft Marcel Schweizer in der Tonhalle ein und bereitet alles vor. Früher sei es vorgekommen, dass er nicht rechtzeitig fertig wurde: „Es gab auch schon Produktionen, in denen ich mich in einem günstigen Moment in die Szene einschleichen musste“. „Showboat“ aus dem Jahr 1997 kommt ihm dabei in den Sinn: „Wir mussten vor der Vorstellung 35 Perücken montieren und dann zwischen zwei Akten innert fünf Minuten die Darsteller auf die Zeit 30 Jahre später umfrisieren“, erinnert sich Schweizer.  Doch bei der „Traviata“ ist alles perfekt getimt, vor Vorstellungsbeginn müssen alle Darsteller fertig geschminkt, frisiert und angekleidet sein.

Während der Probenarbeit konnte sich Schweizer noch ganz auf seine Rolle und die Musik konzentrieren. Dennoch ratterte es bereits in seinem Hirn: „Wie würde ich diese oder jene Person frisieren?“. Streng wurde es dann erst in der Endphase der Probenarbeit, als Kostüm und Maske die Grundlage für die Frisur gaben: „Erst dann bekommt man den richtigen Eindruck von der Figur, die dargestellt werden soll“. Es sind nicht nur die Kleider, die die Leute machen.

Wohlbefinden
Bei der ersten Kostümprobe hatte Marcel Schweizer die Gelegenheit, die Darsteller nach seinen eigenen Vorstellungen zu frisieren. Die zeitlose Inszenierung von Regina Heer benötigt keine Perücken, vielmehr geht es darum, den gesellschaftlichen Status der Personen widerzuspiegeln, bzw. authentisch, natürlich zu erscheinen. „Zusammen mit Kostümbildner Bernhard Duss besprachen wir dann die endgültige Frisur“, erläutert Schweizer die Vorbereitung.
Und wie sieht es mit dem Mitspracherecht der Darsteller aus? „Grundsätzlich vertrauen die Chorfrauen unseren Haarkünsten und der jahrelangen Routine“, erklärt Schweizer. „Wenn es dann doch etwas zu extrem wird, versuchen wir, die Betreffende zufrieden zu stellen“. Denn letztlich ist das Wohlbefinden, das Gefühl der Sicherheit auf der Bühne in Kostüm, Maske und Frisur massgeblich für einen natürlichen Auftritt.

Anspannung ist wichtig
Sich selber zu frisieren liegt für die Darsteller nicht drin. „Ich stehe mit meinem Namen für die Frisuren“, erklärt Marcel Schweizer. Und daher ist es nötig, dass er und sein Team die Kontrolle behalten: Und das heisst auch, während der Vorstellung zu kontrollieren und zu korrigieren, sollte einmal etwas durcheinander geraten sein.
“Für Marcel Schweizer ist die „Traviata“ die 18. Produktion, in der er in der mitwirkt. Sein Vater arbeitete viele Jahre in der Maske, und so erwischte der junge Marcel den Theatervirus 1960 im Zar Saltan wo er seinem Vater im Ressort Maske mithalf. 1963 stand er dann im „Schwarzen Hecht“ das erste Mal selbst auf der Bühne, in einer kleinen Rolle als Zirkusboy. „Obwohl ich nichts zu singen hatte, war ich schrecklich nervös“, erinnert sich Schweizer.
Nach all den Jahren hat sich die Nervosität gelegt, dennoch: Die Anspannung ist wichtig. „Diese Anspannung ist die Voraussetzung für eine gute Bühnenpräsenz“, sinniert Schweizer.

Eine Nebenrolle, die keine ist

zimmermann

WIL Anny Zimmermann steht als Annina in Verdis „La Traviata“ mit einer anspruchsvollen Nebenrolle auf der Bühne. Das Theaterleben liebt die Sopranistin seit der Kindheit.

Eigentlich wäre die Rolle der Annina eine kleine Nebenrolle. Die Bedienstete und Vertraute der Kurtisane Violetta hat gemäss Libretto nur wenige Auftritte. Doch Regisseurin Regina Heer gewichtete diese Figur sehr viel stärker. Still organisiert Annina in der Wiler Inszenierung Violettas Leben, befördert Briefe, verwaltet die Finanzen – und pflegt Violetta bis in den Tod.

Fast Bauchweh
Als Anny Zimmermann für diese Rolle angefragt wurde, sagte sie spontan zu: „Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus“. Mit zu dem Engagement gehörte auch die Beteiligung am „Hautnah“-Anlass des Musiktheater Wil: Im April 2014 traten alle Mitwirkenden mit Solonummern auf. Diese Konzerte sorgten bei der Sängerin für ein zusätzliches Kribbeln, steigerten allerdings auch die Vorfreude auf die Bühnenarbeit zusätzlich. „Ich bin konzertante Soloauftritte nicht in gleichem Masse gewöhnt“, erzählt Anny Zimmermann. Im Theater trägt sie Kostüme und Schminke, spielt eine Rolle. „In diesen Momenten bin ich nicht ich selbst“. Doch letztlich genoss sie den Auftritt mit den beiden Carmen-Arien sehr: „Es ist herrlich, wenn man erlebt, wie toll es klingt und wie das Publikum auf das reale Ich reagiert!“.

Fuss drin
Mit dem Theatervirus wurde die gebürtige Braunauerin schon früh infiziert, schon als kleiner Knopf durfte sie ihre Eltern an die Aufführungen in Sirnach und Wil begleiten. Nach einer fundierten musikalischen Ausbildung am Lehrerseminar wagte sie dann den Schritt und fragte Martin Baur an, ob er für die Sirnacher Operette noch eine Chorsängerin bräuchte. 2004 stand sie dann in Offenbachs „Grossherzogin von Gerolstein“ das erste Mal auf der Bühne. „Wenn man einmal den Fuss im Theater drin hat, bringt man ihn nicht mehr raus“, schwärmt die Sängerin. Nach weiteren Chortätigkeiten in Sirnach stand sie als Chorsängerin in Wil das erste Mal in der „Carmen“ auf der Bühne. Für die nächste Produktion, Offenbachs „Die Banditen“, bekam sie die Rolle der Bianca.

Sicherheit
Annina hat wenig zu singen – dafür in der Wiler Inszenierung umso mehr zu spielen. „Das Spielen ist in dieser Produktion viel anspruchsvoller!“, erzählt Anny Zimmermann. Weil sie ihre Gefühle nicht mit der Musik ausdrücken kann, muss sie diese mit Mimik und Gestik vermitteln. Eigentlich eine Schauspielrolle. Dabei war ihr Regina Heer eine grosse Hilfe: „Ich habe gelernt, dass weniger oft mehr ist“. Die Erfahrungen der Probenarbeit werden ihr in Erinnerung bleiben: „Regina hat mir viel Freiheit gelassen, die Rolle der Annina zu entwickeln und auszufüllen. Sie hat uns die einzelnen Szenen erklärt, uns spielen lassen und dann gemeinsam mit uns darüber reflektiert“. So ruht Zimmermann heute in ihrer Rolle, fühlt sich wohl und sicher.

Komplimente
Solch eine Rolle ist natürlich mit Einschränkungen verbunden, was v.a. die Probenzeit betraf. „Ich musste mich in dieser Probephase ganz strikte organisieren“, so Zimmermann. Mittlerweile laufen die Aufführungen. „Ich habe das Talent, abzuschalten“, was ihr im beruflichen und privaten Leben zugutekommt. In die Rolle der Annina schlüpft die Real-Lehrerin erst dann, wenn sie das Kostüm anzieht.

Bei der Hauptprobe waren einige ihrer Schüler dabei und erzählten danach, sie hätten oft vor Staunen nicht mehr den Mund zubekommen: Dass man ohne Mikrophon so laut singen könne! „Ich habe total herzige Komplimente von meinen Schülern bekommen“.

 

 

 

 

Zwischen Kloster und Oper

bea

Beatrix Hollenstein betreut das «Jägerstübli» im Keller des Tonhallenschulhauses. Dort erfrischen und stärken sich die Mitwirkenden der Wiler «La Traviata»-Produktion, die derzeit in der Tonhalle aufgeführt wird.

WIL. Es ist 20 Uhr, im Jägerstübli ist es ruhig. Ein paar Bühnenarbeiter sitzen an den Tischen – mit Folie eines Sponsors abgedeckte Hobelbänke im Werkraum des Tonhallenschulhauses – und besprechen ihre Arbeit. Für Beatrix Hollenstein ist dies der Moment, wo sie selbst die «Traviata» geniessen kann: «Wenn es am Anfang der Aufführung hier unten so ruhig ist, hört man die Ouverture sehr gut». Musik, die der Beizerin und Köchin mittlerweile nachläuft, längst begleitet die «Traviata» sie im Alltag.

Klosterküche

Und diesen Alltag verbringt Beatrix Hollenstein im Kloster. Und zwar in der Küche des Wiler Kapuzinerklosters. Durch einen Zufall ist sie zu dieser Arbeit gekommen: Nachdem sie 2012 das erste Mal das Jägerstübli für die Produktion «Die Banditen» des Musiktheaters Wil betreut hatte, wurde sie nach der Dernière von einer Mitarbeiterin ihres Jägerstübli-Teams gefragt, ob sie nicht Interesse hätte, an drei Tagen in der Woche und drei Wochenenden im Monat für die Kapuziner zu kochen.

Nachdem sie sich entschlossen hatte, das Restaurant «Städeli» an der Hofbergstrasse zu schliessen, war dieses Angebot eine willkommene Herausforderung. «Quartierbeizen sterben leider aus»: Ein bisschen trauert Beatrix Hollenstein ihrem Restaurant noch nach.

Keine Unterschiede

Doch die Arbeit im Kloster macht ihr immens Freude, sie erlebt sehr viel Dankbarkeit und Freundschaft. Die Brüder nehmen auch rege Anteil an ihrer Arbeit für das Musiktheater Wil: Sie staunen, wie sie den enormen Mehraufwand an Arbeit bewältigt. «Woher nimmst du diese Energie», wurde sie gefragt. Für Beatrix Hollenstein ist dies nicht verwunderlich: «Wir haben hier so ein wunderbares Team», schwärmt sie. Das familiäre Miteinander, nicht nur innerhalb des Jägerstübli-Teams, sondern mit allen Mitwirkenden zusammen, seien es Solisten, Orchestermusiker oder Bühnenarbeiter, ist einzigartig. «Es sind unterdessen Freundschaften entstanden», so Beatrix Hollenstein. Man unterstützt sich gegenseitig, es gibt keinen Unterschied zwischen Solisten und Backstage-Arbeitern.

Suppenbüchlein

Das Kapuzinerkloster ist auf eine fast unsichtbare Weise mit «La Traviata» verbunden. In der dortigen Küche bereitet Beatrix Hollenstein die frischen Speisen für die Vorstellungen zu: Linzer Torte, Schoggikuchen – und die Suppen, für die sie berühmt ist. Heute soll es Erbsensuppe geben, aber nicht nur eine gewöhnliche Erbsensuppe. «Es ist Ingwer mit drin – was Spezielles halt.» Am Ende der Produktion will Beatrix Hollenstein wieder ein Suppenbüchlein herausgeben: Zu jeder Aufführung kocht sie eine eigene Suppe.

Bis zuletzt

Der Arbeitseinsatz beginnt freilich weit vor den ersten Klängen der Ouverture. «Eigentlich bin ich immer viel zu früh da», so Beatrix Hollenstein. Anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn bringt sie die Speisen eigenhändig ins Jägerstübli. Der offizielle Feierabend findet dann zwar bereits vor dem Schlussvorhang statt: «Nach der grossen Pause dürfen wir zusammen räumen.» Der Werkraum muss schliesslich für den Schulbetrieb wieder hergerichtet werden. Aber letztlich bleibt Beatrix Hollenstein bis zuletzt und hat auch für einzelne gesellige und durstige Mitwirkende noch ein Plätzchen bereit.

Die «Traviata» wird Beatrix Hollenstein derweil nicht nur aus den Katakomben heraus geniessen können, sie will sich einmal eine Aufführung ansehen. «Bis zur Dernière schaffe ich es», strahlt sie.

«Meitli, das gibt Arbeit»

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Die Wilerin Nicole Bosshard steht ab dem nächsten Samstag als Violetta in Verdis Oper «La Traviata» auf der Tonhallen-Bühne. Die Arbeit mit Regisseurin Regina Heer erlebt sie als persönliche Bereicherung.

«Ich dachte, die sind verrückt», erinnert sich Nicole Bosshard lachend an den Moment, als Eugen Weibel, Präsident des Musiktheaters Wil, sowie der musikalische Leiter Kurt Pius Koller nach der Dernière des letzten Classic Open Airs auf sie zugekommen waren: Ob sie Interesse habe, bei der nächsten Musiktheater-Wil-Aufführung «La Traviata» die Rolle der Violetta zu übernehmen. Diese Figur in der Oper von Giuseppe Verdi ist für jede Sopranistin die absolute Traumrolle, Sängerinnen wie Teresa Stratas, Angela Gheorghiu und Anna Netrebko erlangten mit ihr Weltruhm.

Die Wiler Sopranistin, die in der letzten Musiktheater-Produktion «Die Banditen» als Räubertochter auf der Bühne stand, nahm die Herausforderung an: «Ich habe geübt wie eine Wahnsinnige.» Als nach dem Vorsingen Eugen Weibel ihr mitgeteilt habe, dass auch Regisseurin Regina Heer von ihr als Violetta überzeugt sei und sie die Rolle habe, habe sie es nicht glauben können. Die Reaktion ihres Gesangslehrers Ivan Konsulov: «Meitli, das gibt Arbeit.»

Italienisch als Herausforderung

Ein Handicap beim Studium der Rolle waren die mangelnden Sprachkenntnisse. Aber eine italienische Kollegin half ihr dabei, sie lasen die Oper mehrere Male durch. «Wobei es erst noch ein altertümliches Italienisch ist, wie meine Kollegin meinte.» Dreimal besuchte sie an der Musikakademie Basel Rainer Altdorfer, der ihr bei der musikalischen Umsetzung dieser Sprache half. «Jetzt noch gibt es Stellen, an denen Regina Heer meine Aussprache ein wenig bemängelt», erzählt Nicole Bosshard. Aber sie ist zuversichtlich, die Aussprache bis zur Premiere am nächsten Samstag tadellos hinzubekommen. Dennoch: «Es wäre ein riesiger Fehler gewesen, die Oper auf Deutsch aufzuführen.» Freilich ist es nicht einfach, die richtige Gestik und Mimik zu erzeugen, wenn man den Text nicht detailliert versteht. Aber dafür hat Nicole Bosshard die Übersetzung in den Klavierauszug eingetragen und wenn die Doppelbesetzung Andrea Hofstetter und Israel Alarcon Maizer probte, las sie die Übersetzung mit.

Die Probenarbeit erlebt die Sopranistin äusserst positiv. «Wir hatten es noch nie so gut im Team», schwärmt sie von der Zusammenarbeit mit Regisseurin Regina Heer. Sie lasse einen auch einmal etwas ausprobieren, zwinge einem ihre Regie nicht auf, und gäbe dann wirklich faire Rückmeldungen. Wenn diese «La-Traviata»-Inszenierung einen persönlichen Einfluss auf Nicole Bosshard haben wird, dann nicht die Auseinandersetzung mit der Rolle an sich, sondern diese Regiearbeit. «Regina Heer inspiriert einen zu einer besseren Selbstwahrnehmung», erzählt Nicole Bosshard. «Wie würdest Du Dich privat in dieser Situation verhalten?», fragt sie beispielsweise immer wieder. «Es war mir bis jetzt nie so bewusst, was man durch eine Körperhaltung ohne grosse Gestik alles bewirken kann.»

Moderne Inszenierung

«La Traviata» wird modern, zeitgemäss inszeniert, das Bühnenbild ist schlicht gehalten. «Es ist nicht einfach, mit so wenig auszukommen», meint Nicole Bosshard. So sei man ganz auf die Gefühle reduziert und auf deren musikalische Umsetzung. «Aber mir geht es sehr gut damit.» Auf ihre Kostüme freut sich die Sopranistin ungemein und zückt ihr Handy mit Bildern von ihr bei der Anprobe. «Das gab es noch nie, dass extra für mich Kleider genäht wurden», sagt sie. Die Zeit vom ersten Notenstudium bis zur Premiere ist streng. «Ich stehe mit Violetta auf, ich gehe mit ihr ins Bett. Oft war ich froh, wenn ich mich während der Arbeit im Büro wieder anderen Dingen widmen konnte.» Abends vor dem Einschlafen geht Nicole Bosshard Passagen durch. Stockt sie, wird das Licht angeknipst und nachgeschaut. Die Violetta Valérie ist wahrlich eine grosse Rolle, aber Nicole Bosshard fühlt sich darin wohl. Es ist eine authentische Rolle, eine Frau mit Emotionen.

“Traviata muss erzählt werden”

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Regina Heer inszeniert die „Traviata“ des MUSIKTHEATERWIL zeitgemäss. Damit folgt sie den Vorgaben des Veranstalters, der sich eine Wende gewünscht hatte.

Modern sollte sie werden, die Wiler „Traviata“, zeitgemäss. Dies war die klare Vorgabe der Theaterkommission, und mit diesem Ziel, ein Gegenstück zum  Bisherigen zu schaffen, ging man auf die Suche nach einem geeigneten Regisseur, einer geeigneten Regisseurin. „Ich war gerade auf einer Velotour, als der Anruf von Kurt Koller kam“, erinnert sich die Baslerin lachend. Gemeinsam mit Koller und Präsident Eugen Weibel war sie dann auf die Suche nach einem Werk gegangen.

Giuseppe Verdis Oper „La Traviata“ eignet sich hervorragend für eine zeitgemässe Inszenierung: Die extrem hohe Emotionalität der Handlung spiegelt sich aufs Grossartigste in der Musik wieder. „Ich stehe dieser Oper sehr nahe“, erzählt die Regisseurin, die mit diesem Werk ein emotional sehr tiefes Erlebnis in einer früheren Produktion verbindet. „Wenn es mir nicht gut geht und ich höre diese Musik, kann ich loslassen – einfach wunderbar.

„Der Chor ist super“

Warum eine moderne Inszenierung?  Warum keine Krinolinen und Rüschen? „In einer zeitgemässen, oder besser zeitlosen Inszenierung kann die emotionale Ebene viel direkter umgesetzt werden“, so Heer. Wie war die Regisseurin dann an die Entwicklung der Inszenierung herangegangen? „Wir, Bühnenbildnerin Marion Menziger, Kostümblidner Bernhard Duss und ich, sitzen zusammen und überlegen, wie wir diese Oper erzählen wollen. Nach anfänglichem, herrlich ferien Spintisieren wird dan immer konkreter, wo wir den Fokus legen“, erzählt Regina Heer. Es gebe Opern, denen ein verfremdendes Konzept gut ansteht, aber „La Traviata“ muss ganz direkt erzählt werden. Und das bietet bei der Interpretation Spielraum. Vieles entwickelte sich auch während der Probenarbeit und da ist die erfahrene Opernregisseurin und Dozentin schlichtweg begeistert von ihrem Wiler Team: „Der Chor ist super“, schwärmt sie. Sehr präsent, spiel- und experimentierfreudig, diszipliniert und bringt vollen Einsatz.

Mit Bühne vertraut werden

Auch das Solisten-Ensemble ist sehr gelungen, die Arbeit macht schlichtweg Freude. Humor ist auch etwas, ohne das sich Heer ihre Arbeit nicht vorstellen kann. „Wir haben eine sehr gute Probenatmospäre“, schwärmt sie. Die Darsteller sollen sich zuhause fühlen, sicher, gemäss der Regel: „Make the stage a safe place“. So probieren sie aus, ohne Angst vor einer Abkanzlung durch den Regisseur.

Eine weitere Herausforderung ist für Regina Heer die Doppelbesetzung von Violetta und Alfredo. „Es sind zwei grundverschiedene Paare und ich probe häufig separat“, erzählt Heer aus ihrer Probenarbeit. So entwickelte jedes Paar auch eine eigene Sprache, eine eigene Regie. „Mit beiden Paaren die gleiche Regie zu poben, wäre nicht nur unstimmig, das hätte mich schlichtweg gelangweilt.“ Der einzige, der dadurch doppelte Arbeit leisten muss, ist Niklaus Kost, der Alfredos Vater, Giorgio Germont, singt und im zweiten Akt zwei grosse Szenen mit Alfredo und Violetta hat. „Er muss sich zwei verschiedene Inszenierungen verinnerlichen“, erläutert Heer diese Komplikation. Aber nicht umsonst hat sie die Probenarbeit mit den Solisten bereits sehr früh begonnen.

Seit dieser Woche wird in der Tonhalle geprobt. Platz fürs Experimentieren gibt es jetzt weniger, denn jetzt geht es darum, in diesem Raum anzukommen und im Originalbühnenbild heimisch zu werden.

Grosse Emotionen im schnörkellosen Umfeld

infowilplus, 23.12.2014

Die „Traviata“-Proben sind von der Probebühne in die Tonhalle umgezogen

Carola Nadler
Seit gut einer Woche probt das Ensemble des MUSIKTHEATERWIL in der Tonhalle. Zeitlich liege man so gut wie noch nie, sagt technischer Leiter Karl Ulmer.

 

Das MUSIKTHEATERWIL probt "La Traviata" bereits in der Tonhalle.

Das MUSIKTHEATERWIL probt “La Traviata” bereits in der Tonhalle.

Regisseruin Regina Heer wird von Choreograph Norbert Steinwarz unterstützt.

Regisseruin Regina Heer wird von Choreograph Norbert Steinwarz unterstützt.

"La Traviata"-Violetta, Nicole Bosshard, im Dialog mit dem Vater ihres Liebsten.

“La Traviata”-Violetta, Nicole Bosshard, im Dialog mit dem Vater ihres Liebsten.
„Ihr dürft nicht mit der Gruppe singen und denken, das stimme dann schon!“. Unermüdlich ruft Dirigent Kurt Pius Koller seinen Sängerinnen und Sängern in Erinnerung, dass die szenische Darstellung auf der Bühne die musikalische Qualität nicht verdrängen darf. Schwer vorstellbar, dass Opernchören auf den grossen Bühnen der Welt solche Sorgfalt zuteil wird!

Kollers Anspruch ist hoch: „Jeder Einzelne muss nach mir singen!“. Und : „Der Bass muss viel heller singen, jetzt umso mehr, auf dieser Bühne seid Ihr so weit hinten.“. Doch der Erfolg dieser vermeintlichen Pedanterie ist unumstritten: Transparent und messerscharf lassen die Chorpassagen die phantastische Grösse dieses Werkes sich erst entscheidend entwickeln.

Original Bühnenbild
„Lassen wir es doch einfach mal laufen.“ Regisseurin Regina Heer hat eine intensive Detailarbeit auf der Probenbühne hinter sich, nun kann zusammengefügt werden. Das Bühnenbild war bereits auf der Probebühne im Einsatz, allerdings in „entschärfter“ Version. Jetzt sind die Rampen deutlich steiler, das Gehen darauf muss geübt werden. Nicht umsonst tragen die Damen bereits die Schuhe ihrer Kostüme mit teils mörderischen Absätzen.

Körpersprache
Die Durchlaufprobe an diesem Samstag ist geprägt von Detailarbeit, die aber keinesfalls ermüdend wirkt, sondern von der hohen Aufmerksamkeit der Regisseurin geprägt ist – und ihres Assistenten Norbert Steinwarz, Tänzer und Choreograph. Seine Aufgabe ist es, den Darstellern zu zeigen, wie man geht, wie man sich auf der Bühne bewegt. „Ein Publikum, das nicht fliessend Italienisch versteht, ist darauf angewiesen, dass es via Körpersprache die Dialoginhalte vermittelt bekommt“, erläutert Steinwarz seine Arbeit. Was Koller über die Musik und Heer über die Regie erreichen, geschieht bei Steinwarz über die Körpersprache: Seine Darsteller erzählen die Geschichte mit Gestik und Mimik.

Wie ein Zwilling
„Ihr steht dort oben wie auf einer Hühnerleiter“, kommentiert die Regisseurin ein bestimmtes Bild, aber völlig ohne „Niedermache“, vielmehr als Rückmeldung von aussen. „Schaut neben Euch“, so Steinwarz. “ Wenn Ihr neben Eurem Nachbarn wie ein Zwilling steht, ändert etwas daran: Lehnt Euch zurück und betrachtet dessen Frisur“. Gelächter begleitet diese Anweisung.

Regina Heer weist die Darsteller – Chor wie Protagonisten – ein, wie weit sie sich im Raum ausdehnen dürfen. Sehr weit: Sie zeigt, welche Winkel später vom Licht ausgeleuchtet werden. Technisch gibt es noch Einiges zu tun, wie technischer Leiter Karl Ulmer berichtet, der als Marchese d’Obigny ebenfalls auf der Bühne steht. Anstehende Arbeiten können nur abseits der Probenarbeit erledigt werden: Frühmorgens oder nachts. Oder am Sonntag. Dennoch ist er mehr als zuversichtlich: „Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch nie so weit fortgeschritten“.

„Grosse Gefühle“
Der zweite Akt: Violetta wird von Alfredos Vater Giorgio Germont bedrängt, ihren Geliebten zu verlassen, um der Tochter eine standesgemässe Heirat zu ermöglichen. Nicole Bosshard und Niklaus Kost proben in privaten Kleidern, lediglich der Mantel von Vater Germont wird bereits zur Verwahrung der Requisiten benötigt, ein Bild der Tochter. Nicole Bosshard trägt Leggings und einen Jupe, darüber ein T-Shirt, trendige Armbändli, sie ist barfuss.

Dennoch: Die Eindringlichkeit der Darstellung beider Protagonisten ist dermassen überwältigend, dass man schlicht die Probensituation vergisst: Im Zuschauerraum sind die Stühle zur Seite gestapelt, Wasserflaschen, Thermoskannen, Kleiderbündel liegen achtlos herum und die Korrepetitorin sitzt auf einer Technikkiste. „Grosse Gefühle“, authentisch dargestellte Emotionen brauchen eben keine Rüschen und Krinolinen.

Choreograph Norbert Steinwarz gibt Hinweise zur Körperarbeit.

Choreograph Norbert Steinwarz gibt Hinweise zur Körperarbeit.

Regina Heer erläutert ihre Beobachtungen.

Regina Heer erläutert ihre Beobachtungen.

Nicole Bosshard als Violetta steht vor einer wichtigen Entscheidung.

Nicole Bosshard als Violetta steht vor einer wichtigen Entscheidung.

Der Chor des MUSIKTHEATERWIL arbeitet sich in das Bühnenbild ein.

Der Chor des MUSIKTHEATERWIL arbeitet sich in das Bühnenbild ein.

Noch wird mit dem Klavier geprobt.

Noch wird mit dem Klavier geprobt.

Bereits jetzt wird mit den Originalschuhen geprobt - sicher ist sicher.<br>

Bereits jetzt wird mit den Originalschuhen geprobt – sicher ist sicher.

Authentische und wahrlich grosse Gefühle auf der Tonhallenbühne.

Authentische und wahrlich grosse Gefühle auf der Tonhallenbühne.