Archiv für den Monat: März 2015

Ein Bösewicht, der keiner ist

kost

WIL Niklaus Kost singt in der Wiler „La Traviata“ den Vater Alfredos. Diese Rolle lebt für den Bariton vom Kontrast zwischen damaligen Moralvorstellungen und heutigem Verantwortungsbewusstsein.

Niklaus Kost ist nicht zu übersehen. Wenn er mit seinen 2,03 Metern durch die Kellergänge von der Tonhalle hinüber ins Jägerstübli unter dem Tonhallenschulhaus geht, muss er mehr als den Kopf einziehen. Angenehm ist es wohl nicht, immer wieder auf diese Grösse angesprochen zu werden. In Inszenierungen hat er schon den verschiedensten Umgang damit erlebt: In Holland wurde er als Giorgio Germont in einen Rollstuhl gesetzt. Einerseits, um ihn, den heute erst 33-Jährigen älter erscheinen zu lassen, andererseits aber, um seine Grösse zu kaschieren.

Gesellschaftliche Vorgaben
Regina Heer, die Regisseurin der Wiler „La Traviata“ ging  anders damit um, sie setzte diese Grösse bewusst ein, beispielsweise im Kontrast zu den beiden Violetta-Darstellerinnen im ersten Bild des zweiten Aktes: Kosts obere Position auf dem schrägen Bühnenelement unterstrich seine grosse Macht über Violetta Valéry, der Geliebten seines Sohnes Alfredo. Dieser Beziehung fehlt der kirchliche Segen, wodurch Alfredos Schwester eine standesgemässe Verbindung verwehrt bleibt. Germont ist eingebunden in den gesellschaftlichen und religiösen Vorgaben seiner Zeit, er handelt – wechselt man in die Perspektive der damaligen Zeit – völlig verständlich, er kann gar nicht anders handeln.

Verantwortung abgeben
„Heute nehmen wir den Vater Germont als Bösewicht wahr“, erläutert Kost seine Rolle. Aber in Alexandre Dumas‘ Vorlage ist nichts davon zu finden. „Im Gegenteil, Violetta sagt einmal: „Er hat mir nichts gesagt, was ich nicht selbst schon 100 Mal überlegt habe“. Niklaus Kost war selbst überrascht: „Ich hatte den klassischen Verdi-Bösewicht wie Jago oder Macbeth erwartet“. Im Vergleich zu diesen beiden Figuren bewegt sich Germont jedoch absolut im Rahmen der Legalität.
Regina Heer hatte den religiösen Kontext herausstreichen wollen. Und zeigt damit einen Menschen, der sein eigenes Handeln mit „Gottes Willen“ und gesellschaftlichen Zwängen rechtfertigt. „Heutzutage erwartet man vom Einzelnen, dass er sich gegen vorherrschende Meinungen widersetzt“, sinniert Kost über seine überaus spannende Rolle. Damals gab man die Verantwortung ab an Andere, an Gott und die Gesellschaft. Die zeitgemässe Wiler Inszenierung wirft die Frage auf, wo heute noch Menschen ihre Selberverantwortung abgeben?
„Im letzten Akt übernimmt Germont jedoch ein wenig Verantwortung“, so Kost. Germont zeigt sich sichtbar getroffen, obwohl er sich rasch wieder ent-„schuldigt“: „Ich war gezwungen, das zu tun“.

Germont bleibt in Wil
Diese strenge, ambivalente Figur des Giorgio Germont nimmt Niklaus Kost nach den Vorstellungen nicht mit nach Hause. Gemeinsam mit seinen Solisten-Kollegen fährt er im Zug zurück nach Zürich, geniesst ein Feierabendbier im Zugrestaurant und entspannende Gespräche. Auch zuhause zeigt er bei Weitem nicht den strengen Familienvater. „Kann höchstens sein, dass sich während der Probenarbeit etwas in meinem Verhalten niedergeschlagen halt, als ich mir überlegte, wie ich diese Rolle entwickeln will“, erinnert sich Kost.
Als Familienvater, der das Glück zweier Liebenden zerstört, mag Germont heute zwar als Bösewicht wirken. Doch gemeint hat er es nur gut. Aus seiner Sicht.

 

Unsere Zeit ist begrenzt

hofstetter

WIL Andrea Hofstetter und Israel Alarcon Maizer stehen in „La Traviata“ als Zweitbesetzung auf der Tonhallen-Bühne. Mit dem Produktionsteam auf und hinter der Bühne fühlen sich beide rundum wohl.

Nicole Bosshard und Andrea Hofstetter haben nebst Ihrer Hauptrolle in „La Traviata“ eine weitere Gemeinsamkeit: Sie studieren beide bei Ivan Konsulov Gesang in Zürich. Dieser war 2006 als Nabucco in Wil aufgetreten. Und für beide Sopranistinnen ist es das erste Mal, dass sie in dieser hochemotionalen Partie auf der Bühne stehen. Auch Israel Alarcon Maizer gab in Wil sein Debut als Alfredo. „Alfredo ist eine grosse, schöne Partie, die gut vorbereitet sein muss“, meint Maizer. Ob Erst- oder Zweitbesetzung: Die Anforderungen sind für den Bolivianer, der mittlerweile in Basel Sologesang studiert, die gleichen.

Keine Kopie
Die Arbeit mit Laienbühnen ist für Andrea Hofstetter nicht neu: Diesen Herbst wird sie bereits zum sechsten Mal in Möriken-Wildegg mitwirken. Ähnlich ist die Situation am Stadttheater Sursee, wo sie ebenfalls bereits in sechs Produktionen mitwirkte. Neben ihrer Bühnenarbeit ist sie als Lehrerin für Sologesang tätig.
in Wil fühlen sich Andrea Hofstetter und Israel Alarcon Maizer  ausgesprochen wohl: „Das Team bringt uns Auswärtigen sehr viel Wohlwollen entgegen“, erläutert die Sopranistin ihr Wohlbefinden. Darunter der Chor und die beiden Dirigenten, die einem eine eigene Gestaltung der Partie ermöglichen. Dies wurde durch die Regisseurin Regina Heer explizit gewünscht und erarbeitet: So durfte Hofstetter mit ihrem Bühnenpartner Israel Alarcon Maizer die Figuren individuell entwickeln. „Wir mussten unsere Rollen nicht einfach von der Erstbesetzung kopieren, mussten keine exakten Regieanweisungen ausführen“, erinnert sich Hofstätter an die Probenarbeit. „Dafür bin ich sehr dankbar – es hat die Probenarbeit für uns viel spannender gemacht“. Ein Grund mehr, sich auf jede der Aufführungen zu freuen. „Nicht zuletzt auch wegen der feinen Suppen und Kuchen im Jägerstübli“, schmunzelt die Sopranistin. „Die Leute sind alle sehr nett und offen, ich fühle mich gut in Wil“, schwärmt Maizer.

Herausforderung
Als Zweitbesetzung engagiert zu sein bedeutet immer eine eigene Herausforderung. Man hat weniger Proben und Auftritte, möchte aber natürlich auch das Optimum geben. „Das erfordert eigene Disziplin, die Abläufe selber einzuüben, präsent zu behalten und die stimmliche Sicherheit beizubehalten.“, erläutert Hofstetter diese Herausforderung. Eine weitere Herausforderung ergab sich erst kürzlich durch die Grippewelle: Alfredo-Darsteller Roberto Ortiz war krank geworden. Da die beiden Hauptrollenpaare ihr Zusammenspiel  so individuell entwickeln konnten, hiess dies für Hofstetter und Maizer, die Erstbesetzung an einem Abend abzulösen. „Ich war gerade an einem Geburtstagsfest, als der Anruf kam“, erinnert sich die Sopranistin. „Aber dann schaltet sich ein Autopilot ein: Man packt zusammen, singt sich ein und dann ab in die Maske“.

Stück er-leben
Eine so grosse Figur wie die Violetta Valéry geht nicht spurlos an einer Darstellerin vorüber. Die Beanspruchung in der Probenarbeit und den Vorführungen von Stimme, Körper und Emotionen sind erheblich. „Es ist aber eher so, dass ein Teil der eigenen Persönlichkeit in die Figur fliesst, nicht umgekehrt“, meint Andrea Hofstetter. „Das sei auch das Wunderbare am Musiktheater: Man könne durch die Musik und das Darstellen das Stück „er-leben“. Da bleibe schon etwas hängen – zum Beispiel das Bewusstsein dafür, dass unsere Zeit begrenzt ist.

Haare machen Leute

schweizer

WIL Der Wiler Coiffeur Marcel Schweizer steht im „La Traviata“-Chor auf der Bühne. Doch er ist auch für die Frisuren der Mitwirkenden zuständig – und das vor jeder Vorstellung.

Es ist ein Doppeljob, den Marcel Schweizer zu erledigen hat. Einerseits muss er mit seinem Team (Prisca Virdori und Marco La Gioia) die Darsteller des Musiktheaterwil frisieren. Andererseits muss er sich aber auch selbst für seinen Auftritt vorbereiten: Als Mann der Pariser Gesellschaft, der den Genüssen des Partylebens frönt. So leichtfüssig und elegant sich die Musik Verdis auch anhört: Diese Leichtigkeit ist nur mit absoluter Präzision zu erreichen und Dirigent Kurt Koller fordert von seinen Sängern genau dies: Absolute Präzision.
Die Inszenierung von Regina Heer verlangte allerdings etwas Neues: Sie sah jeden Choristen, jede Choristin als Individuum und setzte diese genauso ein. „Es gibt keine dieser verpönten Chor Lines“, schwärmt Schweizer. „Wir konnten unsere eigene Figur entwickeln, auch akzeptierte die Regisseurin nicht, dass immer die gleichen Choristen in der vordersten Reihe agieren.“
Stress vor dem Auftritt kann Marcel Schweizer nicht brauchen, aber dies passiert dem routinierten Theatermann schon lange nicht mehr.

Perfektes Timing
Zweieinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn trifft Marcel Schweizer in der Tonhalle ein und bereitet alles vor. Früher sei es vorgekommen, dass er nicht rechtzeitig fertig wurde: „Es gab auch schon Produktionen, in denen ich mich in einem günstigen Moment in die Szene einschleichen musste“. „Showboat“ aus dem Jahr 1997 kommt ihm dabei in den Sinn: „Wir mussten vor der Vorstellung 35 Perücken montieren und dann zwischen zwei Akten innert fünf Minuten die Darsteller auf die Zeit 30 Jahre später umfrisieren“, erinnert sich Schweizer.  Doch bei der „Traviata“ ist alles perfekt getimt, vor Vorstellungsbeginn müssen alle Darsteller fertig geschminkt, frisiert und angekleidet sein.

Während der Probenarbeit konnte sich Schweizer noch ganz auf seine Rolle und die Musik konzentrieren. Dennoch ratterte es bereits in seinem Hirn: „Wie würde ich diese oder jene Person frisieren?“. Streng wurde es dann erst in der Endphase der Probenarbeit, als Kostüm und Maske die Grundlage für die Frisur gaben: „Erst dann bekommt man den richtigen Eindruck von der Figur, die dargestellt werden soll“. Es sind nicht nur die Kleider, die die Leute machen.

Wohlbefinden
Bei der ersten Kostümprobe hatte Marcel Schweizer die Gelegenheit, die Darsteller nach seinen eigenen Vorstellungen zu frisieren. Die zeitlose Inszenierung von Regina Heer benötigt keine Perücken, vielmehr geht es darum, den gesellschaftlichen Status der Personen widerzuspiegeln, bzw. authentisch, natürlich zu erscheinen. „Zusammen mit Kostümbildner Bernhard Duss besprachen wir dann die endgültige Frisur“, erläutert Schweizer die Vorbereitung.
Und wie sieht es mit dem Mitspracherecht der Darsteller aus? „Grundsätzlich vertrauen die Chorfrauen unseren Haarkünsten und der jahrelangen Routine“, erklärt Schweizer. „Wenn es dann doch etwas zu extrem wird, versuchen wir, die Betreffende zufrieden zu stellen“. Denn letztlich ist das Wohlbefinden, das Gefühl der Sicherheit auf der Bühne in Kostüm, Maske und Frisur massgeblich für einen natürlichen Auftritt.

Anspannung ist wichtig
Sich selber zu frisieren liegt für die Darsteller nicht drin. „Ich stehe mit meinem Namen für die Frisuren“, erklärt Marcel Schweizer. Und daher ist es nötig, dass er und sein Team die Kontrolle behalten: Und das heisst auch, während der Vorstellung zu kontrollieren und zu korrigieren, sollte einmal etwas durcheinander geraten sein.
“Für Marcel Schweizer ist die „Traviata“ die 18. Produktion, in der er in der mitwirkt. Sein Vater arbeitete viele Jahre in der Maske, und so erwischte der junge Marcel den Theatervirus 1960 im Zar Saltan wo er seinem Vater im Ressort Maske mithalf. 1963 stand er dann im „Schwarzen Hecht“ das erste Mal selbst auf der Bühne, in einer kleinen Rolle als Zirkusboy. „Obwohl ich nichts zu singen hatte, war ich schrecklich nervös“, erinnert sich Schweizer.
Nach all den Jahren hat sich die Nervosität gelegt, dennoch: Die Anspannung ist wichtig. „Diese Anspannung ist die Voraussetzung für eine gute Bühnenpräsenz“, sinniert Schweizer.

Eine Nebenrolle, die keine ist

zimmermann

WIL Anny Zimmermann steht als Annina in Verdis „La Traviata“ mit einer anspruchsvollen Nebenrolle auf der Bühne. Das Theaterleben liebt die Sopranistin seit der Kindheit.

Eigentlich wäre die Rolle der Annina eine kleine Nebenrolle. Die Bedienstete und Vertraute der Kurtisane Violetta hat gemäss Libretto nur wenige Auftritte. Doch Regisseurin Regina Heer gewichtete diese Figur sehr viel stärker. Still organisiert Annina in der Wiler Inszenierung Violettas Leben, befördert Briefe, verwaltet die Finanzen – und pflegt Violetta bis in den Tod.

Fast Bauchweh
Als Anny Zimmermann für diese Rolle angefragt wurde, sagte sie spontan zu: „Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus“. Mit zu dem Engagement gehörte auch die Beteiligung am „Hautnah“-Anlass des Musiktheater Wil: Im April 2014 traten alle Mitwirkenden mit Solonummern auf. Diese Konzerte sorgten bei der Sängerin für ein zusätzliches Kribbeln, steigerten allerdings auch die Vorfreude auf die Bühnenarbeit zusätzlich. „Ich bin konzertante Soloauftritte nicht in gleichem Masse gewöhnt“, erzählt Anny Zimmermann. Im Theater trägt sie Kostüme und Schminke, spielt eine Rolle. „In diesen Momenten bin ich nicht ich selbst“. Doch letztlich genoss sie den Auftritt mit den beiden Carmen-Arien sehr: „Es ist herrlich, wenn man erlebt, wie toll es klingt und wie das Publikum auf das reale Ich reagiert!“.

Fuss drin
Mit dem Theatervirus wurde die gebürtige Braunauerin schon früh infiziert, schon als kleiner Knopf durfte sie ihre Eltern an die Aufführungen in Sirnach und Wil begleiten. Nach einer fundierten musikalischen Ausbildung am Lehrerseminar wagte sie dann den Schritt und fragte Martin Baur an, ob er für die Sirnacher Operette noch eine Chorsängerin bräuchte. 2004 stand sie dann in Offenbachs „Grossherzogin von Gerolstein“ das erste Mal auf der Bühne. „Wenn man einmal den Fuss im Theater drin hat, bringt man ihn nicht mehr raus“, schwärmt die Sängerin. Nach weiteren Chortätigkeiten in Sirnach stand sie als Chorsängerin in Wil das erste Mal in der „Carmen“ auf der Bühne. Für die nächste Produktion, Offenbachs „Die Banditen“, bekam sie die Rolle der Bianca.

Sicherheit
Annina hat wenig zu singen – dafür in der Wiler Inszenierung umso mehr zu spielen. „Das Spielen ist in dieser Produktion viel anspruchsvoller!“, erzählt Anny Zimmermann. Weil sie ihre Gefühle nicht mit der Musik ausdrücken kann, muss sie diese mit Mimik und Gestik vermitteln. Eigentlich eine Schauspielrolle. Dabei war ihr Regina Heer eine grosse Hilfe: „Ich habe gelernt, dass weniger oft mehr ist“. Die Erfahrungen der Probenarbeit werden ihr in Erinnerung bleiben: „Regina hat mir viel Freiheit gelassen, die Rolle der Annina zu entwickeln und auszufüllen. Sie hat uns die einzelnen Szenen erklärt, uns spielen lassen und dann gemeinsam mit uns darüber reflektiert“. So ruht Zimmermann heute in ihrer Rolle, fühlt sich wohl und sicher.

Komplimente
Solch eine Rolle ist natürlich mit Einschränkungen verbunden, was v.a. die Probenzeit betraf. „Ich musste mich in dieser Probephase ganz strikte organisieren“, so Zimmermann. Mittlerweile laufen die Aufführungen. „Ich habe das Talent, abzuschalten“, was ihr im beruflichen und privaten Leben zugutekommt. In die Rolle der Annina schlüpft die Real-Lehrerin erst dann, wenn sie das Kostüm anzieht.

Bei der Hauptprobe waren einige ihrer Schüler dabei und erzählten danach, sie hätten oft vor Staunen nicht mehr den Mund zubekommen: Dass man ohne Mikrophon so laut singen könne! „Ich habe total herzige Komplimente von meinen Schülern bekommen“.