WIL Niklaus Kost singt in der Wiler „La Traviata“ den Vater Alfredos. Diese Rolle lebt für den Bariton vom Kontrast zwischen damaligen Moralvorstellungen und heutigem Verantwortungsbewusstsein.
Niklaus Kost ist nicht zu übersehen. Wenn er mit seinen 2,03 Metern durch die Kellergänge von der Tonhalle hinüber ins Jägerstübli unter dem Tonhallenschulhaus geht, muss er mehr als den Kopf einziehen. Angenehm ist es wohl nicht, immer wieder auf diese Grösse angesprochen zu werden. In Inszenierungen hat er schon den verschiedensten Umgang damit erlebt: In Holland wurde er als Giorgio Germont in einen Rollstuhl gesetzt. Einerseits, um ihn, den heute erst 33-Jährigen älter erscheinen zu lassen, andererseits aber, um seine Grösse zu kaschieren.
Gesellschaftliche Vorgaben
Regina Heer, die Regisseurin der Wiler „La Traviata“ ging anders damit um, sie setzte diese Grösse bewusst ein, beispielsweise im Kontrast zu den beiden Violetta-Darstellerinnen im ersten Bild des zweiten Aktes: Kosts obere Position auf dem schrägen Bühnenelement unterstrich seine grosse Macht über Violetta Valéry, der Geliebten seines Sohnes Alfredo. Dieser Beziehung fehlt der kirchliche Segen, wodurch Alfredos Schwester eine standesgemässe Verbindung verwehrt bleibt. Germont ist eingebunden in den gesellschaftlichen und religiösen Vorgaben seiner Zeit, er handelt – wechselt man in die Perspektive der damaligen Zeit – völlig verständlich, er kann gar nicht anders handeln.
Verantwortung abgeben
„Heute nehmen wir den Vater Germont als Bösewicht wahr“, erläutert Kost seine Rolle. Aber in Alexandre Dumas‘ Vorlage ist nichts davon zu finden. „Im Gegenteil, Violetta sagt einmal: „Er hat mir nichts gesagt, was ich nicht selbst schon 100 Mal überlegt habe“. Niklaus Kost war selbst überrascht: „Ich hatte den klassischen Verdi-Bösewicht wie Jago oder Macbeth erwartet“. Im Vergleich zu diesen beiden Figuren bewegt sich Germont jedoch absolut im Rahmen der Legalität.
Regina Heer hatte den religiösen Kontext herausstreichen wollen. Und zeigt damit einen Menschen, der sein eigenes Handeln mit „Gottes Willen“ und gesellschaftlichen Zwängen rechtfertigt. „Heutzutage erwartet man vom Einzelnen, dass er sich gegen vorherrschende Meinungen widersetzt“, sinniert Kost über seine überaus spannende Rolle. Damals gab man die Verantwortung ab an Andere, an Gott und die Gesellschaft. Die zeitgemässe Wiler Inszenierung wirft die Frage auf, wo heute noch Menschen ihre Selberverantwortung abgeben?
„Im letzten Akt übernimmt Germont jedoch ein wenig Verantwortung“, so Kost. Germont zeigt sich sichtbar getroffen, obwohl er sich rasch wieder ent-„schuldigt“: „Ich war gezwungen, das zu tun“.
Germont bleibt in Wil
Diese strenge, ambivalente Figur des Giorgio Germont nimmt Niklaus Kost nach den Vorstellungen nicht mit nach Hause. Gemeinsam mit seinen Solisten-Kollegen fährt er im Zug zurück nach Zürich, geniesst ein Feierabendbier im Zugrestaurant und entspannende Gespräche. Auch zuhause zeigt er bei Weitem nicht den strengen Familienvater. „Kann höchstens sein, dass sich während der Probenarbeit etwas in meinem Verhalten niedergeschlagen halt, als ich mir überlegte, wie ich diese Rolle entwickeln will“, erinnert sich Kost.
Als Familienvater, der das Glück zweier Liebenden zerstört, mag Germont heute zwar als Bösewicht wirken. Doch gemeint hat er es nur gut. Aus seiner Sicht.